Als meine hoch betagte Mutter ins Betreute Wohnen zog, fand ich im Umzugsgut einen alten Stadtplan meiner Heimatstadt Erlangen. Er faszinierte mich sofort, trug er doch das Datum meines Geburtsjahres 1957. Faszinierend, was es alles damals noch nicht gab! Aber auch, was bis heute gleich geblieben ist. Der winzig kleine Stadtkern mit der später südlich errichteten, in strenger Rechtwinkligkeit gebauten "Margkrafen"-Stadt ist bis heute kennzeichnend für Erlangen.
Welche „innere“ Landkarte hatte damals das einjährige Kind? Welche Erfahrungen, welche Überzeugungen haben sich in diese „Landkarte“ eingeprägt? Es ist ja im realen Leben ganz ähnlich wie mit den Landkarten: Im Inneren machen wir uns ein Bild von der Welt, um uns gut zurecht zu finden. In meiner Beratungspraxis begegne ich immer wieder solchen inneren Landkarten; und es ist interessant, diese Landkarten hervorzuholen, zu betrachten und in ihnen zu "wandern".
Wozu dienen innere Landkarten?
Wir alle tragen solche inneren Landkarten in uns. Je nach Notwendigkeit können sie verschieden gestaltet sein. Der einfache Stadtplan für die täglichen Routinen und Bewegungen, die "geologische" Karte für die Grundüberzeugungen über die Entstehung meiner "Welt", die Landschaftskarte für meine Gefühlswelt. All diese Landkarten lagern in unserem Unbewussten. Welche Funktion haben sie?
Zunächst wird durch sie das alltägliche Leben automatisiert. Wir können im Alltag nicht an jeder Ecke anhalten und nachdenken, wo es hingeht. Das Unbewusste versucht, alltägliches Verhalten zu automatisieren, um in der Arbeit des Gehirns Energie zu sparen. Routinen erleichtern und beschleunigen viele Alltagshandlungen.
Damit werden innere Landkarten zu einem Steuerungselement. Die Informationen der Landkarte veranlassen uns, bestimmte Orte, gekennzeichnet als Schlucht oder Abgrund, zu vermeiden. Andere Orte suchen wir dafür umso lieber auf (Facebook würde sie in unserer Timeline eigens markieren: "Hier warst du vor 5 Jahren ...") Durch dieses Steuern bilden sich im Leben "Trampelpfade", die wir besonders oft gehen.
Da der Steuerungsprozess unbewusst abläuft, kann es zur Verwechslung von Landkarte und Landschaft kommen. Wer z.B. in seiner inneren Landkarte den Kontakt mit fremden Menschen als "Gefahrenpunkt" gekennzeichnet hat, wird leicht die Überzeugung entwickeln, das Menschen IMMER gefährlich sind. Die Möglichkeit zu neuen Erfahrungen und damit zur Veränderung der Landkarte wird begrenzt.
Was können wir tun
Es ist ein hilfreicher Prozess, mit unseren inneren Landkarten immer wieder zu arbeiten - vor allem dann, wenn alte und unbewusste Muster unser Handeln und unsere Emotionen einschränken. Ein solches Bewusstwerden kann sich in fünf Schritten vollziehen:
1) Sich der inneren Landkarte bewusst werden
Es ist Kennzeichen innerer Landkarten, dass sie im Unbewussten lagern, so wie sich mein Stadtplan in einer vergessenen Schublade des Wohnzimmerschranks befand. Sie aus dieser Tiefe hervorzuholen, macht sie bewusst und hilft dadurch, zwischen der Landkarte und der tatsächlich erlebten Landschaft unseres Lebens zu unterscheiden. Es kann hilfreich sein, die innere Landkarte wirklich zu zeichnen. Nehmen Sie ein großes Blatt Papier, entwickeln Sie Ihre eigen Legende, und beginnen Sie zu zeichnen. Vieles mag zunächst unklar bleiben, doch allein das Zeichnen klärt viele Bezüge, Anordnungen und Einzelheiten. Auch "weiße Flecken" kann es geben, die uns gegenwärtig noch gar nicht bewusst sind. Der Prozess des Erforschens und Zeichnens holt nach und nach immer mehr ins Bewusstsein.
2) Nehmen Sie Ihre Landkarte wahr und wertschätzen sie
Inneren Landkarten bilden sich, um das Leben zu erleichtern. Auch wenn wir aktuell an bestimmten Stellen "an-ecken", weil die Karte nicht mehr stimmt: Sie war in einer bestimmten Lebensphase hilfreich; sie wird auch nie ganz ungültig. Darum hilft es nicht, die "alte" Landkarte als wertlos einzustufen und wegzuwerfen. Im täglichen Leben passiert dies allerdings leicht. "Das waren halt die alten Zeiten!" - "Da warst du halt noch klein!" "Die Welt bleibt nicht stehen!" - All das sind Versuche, alte innere Landkarten zu "entsorgen". Tatsächlich aber werden sie nur in eine Art Kammer gesperrt. Das Alte wird abgewertet und tabuisiert. Besser ist es, die Vergangenheit zu würdigen und wertzuschätzen.
3) Behutsam Veränderungen vornehmen
Immer wieder ist es notwendig, die Landkarte zu verändern. Neue Erfahrungen kommen hinzu; besonders krisenhafte oder auch frohe Erfahrungen erfordern Ergänzungen. Wie in der Wirklichkeit kann es dabei zu erheblichen Umwälzungen und "Erdarbeiten" kommen. Häuser werden eingerissen; andere kommen hinzu. Mein Vater hat damals mit akkurater Linie die geplante Stadtautobahn und den Europakanal eingezeichnet. Die tatsächliche Landschaft sah dann während der Bauarbeiten grauenhaft aus; nach weiteren Jahrzehnten ist der Kanal zum Erholungsgebiet geworden. Auch innere Landkarten bleiben durch Veränderungen flexibel und entwicklungsfähig.
4) Neue Wege erproben
Es bedarf einiger Energie und braucht zunächst Mut, sich mit einer veränderten Landkarte im Leben zu bewegen. Wer z.B. gerade erst in der Landkarte eingezeichnet hat, dass der Kontakt mit fremden Menschen eben nicht eine "Gefahrenzone" ist, benötigt Mut, das neue Terrain zu betreten. Aus der Beratung wissen wir: Wer "out of the comfort zone" geht, hat die Angst im Gepäck.
5) Die neuen Wege "automatisieren"
Wenn wir neue Wege öfter gehen, werden sie vertraut. Sie integrieren sich in unsere Landkarte; neue Gewohnheiten, ja möglicherweise sogar neue Grundüberzeugungen bilden sich. Sie treten neben alte Überzeugungen und können sie korrigieren oder ergänzen. Schließlich wandern auch die neuen Bestandteile der Landkarte wieder ins Unbewusste und verbleiben dort, bis das Leben dazu herausfordert, die Landkarte wieder hervorzuholen.
*****
Ich habe den alten Stadtplan aus dem Schrank meiner Eltern gerahmt. Er hängt nun in meiner Wohnung und erinnert mich an meine inneren Landkarten, die mein Leben erleichtern, steuern, orientieren - und immer wieder einmal verändert und erweitert werden wollen.
Comentários