Erinnern Sie sich noch an das Weihnachtsfest - also außer Geschenken, freien Tagen und Familienfeier? Bei mir im Wohnzimmer steht noch die Krippe, die ich am 4. Advent aufgebaut hatte. Sie erinnert mich an den eigentlichen Anlass des Festes.
Das Weihnachtsfest übt selbst auf Menschen eine Faszination aus, die mit den besonderen christlichen Inhalten nicht viel anfangen können. Die Erzählung von einem Kind in der Krippe rührt ureigene Erfahrungen mit unserer eigenen Kindheit, aber auch mit Kindern in unserem Umfeld an. Mir hat die Krippe in diesem Jahr einiges darüber erzählt, wie kleine Impulse die Welt verändern können:
1. Es bedarf nur kleiner Impulse
Die Geburt eines Jungen in einfachen Verhältnissen - das ist nichts Besonderes. Heute nicht und damals ebenso wenig. Kein Königshaus, keine Gelehrtenfamilie, Sohn eines „solo-selbständigen“ Zimmermanns, möglicherweise unehelich auf die Welt gekommen. Nichts für die Geschichtsbücher. Und doch steht über 2.000 Jahre später genau dieser "Mann aus Nazareth in allen Geschichtsbüchern. Unsere Zeitrechnung richtet sich nach seinem vermuteten Geburtsjahr.
Auch in Unternehmungen fangen große Entwicklungen und Veränderungen oft mit kleinen Impulsen an. Der Ire Percy Shaw dürfte nur wenigen ein Begriff sein. Der Sohn aus einer Arbeiterfamilie arbeitet später im Straßenbau. Hier ließ er sich eines Nachts von den leuchtenden Augen einer Katze inspirieren. Sein 1934 angemeldetes Patent der „Katzenaugen“ finden wir heute an jedem Straßenpfosten, an Millionen Fahrrädern. Ein kleiner Impuls, eine weltverändernde Entwicklung.
2. Impulse erzeugen Resonanz
Dass kleine Impulse große Wirkung entfalten, ist nur möglich, weil sie auf Resonanz stoßen. Menschen oder Entwicklungen nehmen den Anfangsimpuls auf, tragen ihn weiter oder verstärken ihn. So wie ein einziger Regentropfen ein ganzes Spinnennetz zum Vibrieren bringen kann, kann dies auch in Unternehmensentwicklungen geschehen.
Von dem Mann aus Nazareth spricht die Welt auch nur deshalb noch, weil es zunächst einige Männer und Frauen mit ihm zogen, von seinen Taten und seinen Reden erzählten - und weil sie die Grenzen ihres Dorfes, ihrer Region, ja ihres Sprach- und Kulturraumes überschritten haben.
3. Ein System versucht immer sich zu stabilisieren
An der Reaktion von Herodes und Pilatus, an der Reaktion der damaligen religiösen Welt können wir lernen, dass Systeme bei "Störungen" bestrebt sind, sich zu stabilisieren. Erst versuchte man, den "Rebellen" zu domestizieren und in die religiös, moralisch und kulturell geltenden Regeln und Systeme zurückzuführen. Wenn das nicht gelingt, greifen härtere, brutaleren Methoden, so wie der Mann aus Nazareth am Kreuz endete.
Wie oft geschieht es auch in Unternehmungen, dass innovative, "impulsive" Menschen als Störung empfunden werden. Vorschläge werden ignoriert; oder sie werden auf höherer Hierarchieebene "übernommen" und verschwinden in Ablagen oder Schubladen. Mitarbeitende werden sanft oder auch deutlicher "mundtot" gemacht; es kommt zum Prozess der "inneren Emigration".
4. Oft ist erst die zweite Welle nachhaltig
Impulse, Ideen, Vorschläge, die einmal in der Welt sind, verschwinden nicht mehr. Oft dauert es nur, bis die Ursprungs-Idee in neuer Gestalt oder in neuem Gewand wieder auftaucht. Möglicherweise haben sich die Rahmenbedingungen verändert, oder andere Menschen prägen das Unternehmen. Das Boot, das 1965 mit einem Brennstoffzellenantrieb auf einem Teich im Forschungsgelände der Firma Siemens getestet wurde, war für viele Jahre danach wieder in Vergessenheit geraten. Es bedurfte weiterer Wirtschafts- und Energiekrisen, bis die Technologie wieder aufgegriffen und weiter entwickelt wurde.
Auch die religiöse Entwicklung um das Jahr 33 n. Chr. ist ohne eine solche "zweite Welle" nicht denkbar. Erst als 20 Jahre später ein Mann namens Paulus wagte, jene Botschaft von der Auferstehung aufzugreifen und in die damals hellenistisch geprägte Welt trug, entwickelte sich die geschichtliche Dynamik, die das Christentum zur "Weltreligion" werden ließ.
5. Positive und negative Wirkungen stehen nebeneinander
Es gehört zu Veränderungsprozessen dazu, dass sich die langfristigen Folgen nicht sicher abschätzen oder "berechnen" lassen. Die Erforschung der Kernspaltung hat sowohl zur Atombombe als auch zur Entwicklung der Kernenergie geführt. Gerade die Kernenergie galt viele Jahrzehnte als "saubere" Energie; erst spät wurden die dramatischen Risiken bewusst und veränderten das politische Handeln.
Mit der Verbreitung des Christentums ist es - leider - sehr ähnlich. So sehr es zur Resilienz in Krisen- und Krankheitszeiten beiträgt und medizinische Entwicklung und Bildung in vielen Ländern unserer Erde gefördert hat, so dunkel sind aber auch die Kapitel von Verfolgung anders Glaubender und kirchlicher Imperialismus. Die vom russischen Präsidenten Putin scheinheilig verkündete „Feuerpause“ anlässlich des orthodoxen Weihnachtsfestes im Krieg gegen die Ukraine ist dafür ein aktuelles abschreckendes Beispiel.
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Ich werde am Wochenende meine Krippe wieder abbauen und sorgsam in der schönen Aufbewahrungsbox verstauen. In diesem Jahr hat sie mir überraschende Einsichten in die Veränderungsprozesse großer gesellschaftlicher Systeme beschert.
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